Pandemiemüde - Framing blendet Belastung aus
Heute kümmern wir uns um eine misslungene Übersetzung. Deutschland - so hören und lesen wir jetzt überall - sei pandemiemüde. „Pandemic fatigue“ so nennt die WHO die langsam abnehmende Risikowahrnehmung in der Bevölkerung. Also die geringere Bereitschaft sich zu informieren und an Hygiene- und Kontaktbeschränkungen zu halten. Übersetzt wird der Begriff - auch von der WHO selbst - als „Pandemiemüdigkeit“. [1] Gähn. Dieses Müdigkeitsframing jedoch wird der Pandemie kaum gerecht. Als wären wir jemals “pandemie-wach” gewesen. Müdigkeit ist ein ziemlich normaler Zustand. Wer arbeitet, wird müde. Tagsüber sind wir hellwach und abends hundemüde. Dafür geht's dann am nächsten Tag meist munter weiter.
Die Pandemie jedoch ist nicht am nächsten Tag vorbei. Sie ist nicht normal. Sie ist eine Erkrankung, die eine ganze Gesellschaft seit Längerem belastet.
Der Begriff “Fatigue” bezeichnet insofern auch keine Müdigkeit im besten Sinne, sondern ist besser bekannt als Müdigkeitssyndrom oder - noch genauer - als Erschöpfungssyndrom. Wie das Wort “Syndrom” verrät, handelt es sich dabei um nix Normales mehr, sondern um eine “belastende Erschöpfung”. Bei dem Wort “Pandemiemüdigkeit” ist also das “Krankhafte”, das “Belastende”, die “Erschöpfung” irgendwie flöten gegangen.
Versteht mich nicht falsch, es geht hier um Bedeutungsnuancen. Und in der Tat können die Wörter “müde” und “erschöpft” manchmal auch synonym gebraucht werden, wie z.B. bei dem Wort “lebensmüde”. Dennoch ist es ein Unterschied, ob wir einer Gesellschaft “Erschöpfung attestieren” oder “Müdigkeit feststellen”.
Müdigkeit ist meist nichts Schlimmes. Nichts, worüber wir uns Sorgen machen müssten. Das sehen wir auch an daran, dass Müdigkeit meist im Zusammenhang mit “Freiwilligkeit” gebraucht wird. Wie bei den Wörtern “nimmermüde”, “kriegsmüde”, “europamüde”, “impfmüde” oder eben das gut alte schöne (deutsche) Wort “amtsmüde”. Das Müdigkeitsframing bringt die Bedeutung der “freiwilligen Überdrüssigkeit” hinein. Der “amtsmüde Mensche” ist seines Amtes überdrüssig, arbeitet nur noch mit halber Kraft, aber eben aus eigener Entscheidung. Er hat einfach keinen Bock mehr. Das ist das Gute bei Normalzuständen. Wer müde ist, begibt sich einfach zur Ruhe, entspannt sich, legt die Beine hoch. Weil er oder sie es kann.
Wer hingegen erschöpft ist, macht manchmal Dinge, die er im Normalzustand nicht machen würde. Er ist vielleicht gereizt, renitent, ignorant und dergleichen mehr.
Das Müdigkeitsframing lügt uns auf zweierlei Art in die Tasche:
1. Es erweckt den Eindruck, unsere ignoranten, renitenten, gereizten Handlungen geschähen noch komplett freiwillig.
2. Es macht uns blind für unsere eigene Notlage und Bedürftigkeit. So können wir uns dann auch nicht gegenseitig helfen.
Oder kurz gesagt: Wer müde ist, kann sich wach halten. Wer erschöpft ist, braucht Verständnis und Hilfe.
Euer Wortgucker (Auf dem Weg in eine pandemie-mündige Gesellschaft.)
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Gepostet von Wortgucker am Mittwoch, 20. Januar 2021